Die Wahrheit hinter der Wirklichkeit

Mehr als dreißig Jahre umfaßt das bildhauerische Werk Anna Maria Strackerjans — eine Zeit, in der die Stilarten kamen und gingen. Im Überblick zeigt sich, daß die Bildhauerin gegenüber den divergierenden stilistischen Erscheinungen eigentlich immer eine gleich weite Distanz eingenommen hat. Niemals hat sie sich Prinzipien der künstlerischen Tagesaktualität unterworfen. Eine prägende Kraft haben Barlach und die Antike gehabt, dann aber auch die intensiv studierten Werke der großen europäischen Meister, die nach dem Kriege in Westdeutschland bekannt wurden. Doch auch hier ist niemals Anlehnung, wohl aber tieferes Verständnis für plastische Probleme und Vorgänge erfolgt — etwa in der Untersuchung der Vielschichtigkeit einer Moore-Figur oder der Struktur einer Richier-Oberfläche.

Die Plastiken von Anna Maria Strackerjan beruhen vielmehr auf zwei ganz persönlichkeitsbedingten spezifischen Grundlagen: Einmal die Wahl des Materials, zum anderen die Fähigkeit der Künstlerin, ihre leib-seelische und geistige Konstitution auf die schöpferische Arbeit zu übertragen und damit die Formgebung zu akzentuieren. Im Gegensatz zu manchen Strömungen der Kunst unserer Zeit verzichtet die Bildhauerin eben nicht auf die Darstellung des Subjektiven, der individuellen Handschrift, sondern legt vielmehr größten Wert auf diese Komponente des Schaffens.

Anna Maria Strackerjans Werk ist stets gegenständlich geblieben, auch dort, wo sie in Auftragsarbeiten auf Zeichen ausgewichen ist. Auch hier wird der abstrakten Form Symbolwert, Zeichenhaftigkeit in direkter räumlicher Beziehung zu der Einrichtung, für die die Arbeit gedacht ist, unterlegt. Der thematische Zusammenhalt des Oeuvres ist in der Umschreibung des Begriffes „Mensch" zu sehen. Dieses Thema wird in aktueller, gesellschaftlicher, historischer und mythologischer Hinsicht ausgelotet. Natürlich gibt es auch Tiermotive; einige stehen im öffentlichen Raum als Plastik im Freien — andere haben
die der Kleinplastik im allgemeinen entsprechenden Maße. Aber diese Arbeiten nehmen doch nur einen kleinen Teil des Gesamtwerkes ein und stehen formal ganz im Schatten der anderen auf das Menschenbild und -wesen bezogenen Thematik.

In den frühesten Arbeiten, die erhalten sind — „Gefangene" und „Flüchtende Mutter mit Kind" — ist die Form der Plastiken zwar noch geschlossen, der Inhalt ist realistisch, aber das Figürliche ist doch stark abstrahiert und auf wenige charakterisierende Zeichen konzentriert worden — das Ergeben, das Umarmen, das Abwenden und Bergen und Schützen.


Schon 1951 ist in den Figuren „Sängerin" und „Torso" vieles von dem enthalten, was Anna Maria Strackerjans Plastiken bis heute ausmacht: Die rauhe von Fingerdruck und der Handfläche geprägte Oberfläche der Plastiken mit all ihren lichtempfindlichen Reizen; das Torsohafte, das seit Rodin zu den fundamentalen Themen der modernen Plastik zu rechnen und das die einfachste Art der Abstraktion ist, und schließlich die in der Kleinform verborgene Größe, die verhaltene Monumentalität, die in den Arbeiten Anna Maria Strackerjans auf der kühnen, zugleich aber auch rhythmisch stimmigen Proportion beruht.

In den Arbeiten von 1952 wird die Tendenz der Abstraktion intensiviert; der Körper wird entstofflicht, an seine Stelle treten als beherrschende Formen Kontur und Linien oder — wie im „Liegenden" des gleichen Jahres — einander gegenläufige flächenhaft gesehene Massen. Dennoch geht die Auflösung nicht so weit, daß die formale Inhaltsbezogenheit verloren geht. Die Entwicklung zu einem strengen, nicht mehr vom Volumen bestimmten Stil aber ist ablesbar. Nur das Kantige, dem Geometrischen sich Nähernde wird bald wieder zugunsten des Bewegten und Lebendigen — weil auch dem Körper entsprechend — aufgegeben. Statt dessen dominiert eine schwingende Linie, die zuweilen nicht nur verschiedene Körperteile, sondern auch andere Menschen und selbst Gegenstände — Stuhl und Buch — in die Gesamtkonzeption konturhaft integrieren kann.

Wie schon bei den ersten frühesten Figuren behandelt Anna Maria Strackerjan auch in den Arbeiten Mitte der fünfziger Jahre das Thema der „Gruppe", wobei die traditionelle „Mutter-und-Kind"-Gruppe eine Ausweitung (mehrere Kinder) erfahren kann. Aus dieser wie aus der klassischen Kombination des Paares entwickelt die Künstlerin später die „Familie" als Motiv, das mehrere Figuren unterschiedlicher Größe umfaßt. Der besondere Reiz dieser Kompositionen, die fast einen Werkabschnitt ausmachen, die auch in öffentlichen Arbeiten zur Ausführung gekommen sind, liegt in der Rhythmik der verschiedenen Gestalten, der sich auf die ganze Gruppe überträgt. Er wird von der plastisch variantenreichen Oberflächenformung vorgegeben, wobei lange Konturlinien schon Gewänder andeuten, und setzt sich dann im oberen Bereich der Plastik, in der
Verschiedenartigkeit der Kopfformen fort. Die Wölbung der Gesamtgruppe schafft dreidimensionale Abwechslung, die ebenfalls zur Rhythmisierung der Komposition beiträgt. Dank dieser Eigentümlichkeit werden die ganz verschiedenartigen Figuren solcher Gruppen zu einer größeren Einheit zusammengefügt. Der Titel „Familie" hat seine formale Entsprechung erhalten.

In einer Zeit, in der die gesellschaftlichen Bande sich zu lockern scheinen — und dies gilt nicht erst für die siebziger Jahre —, hat die Künstlerin dieses klassische Thema, das einstmals als „Heilige Familie" zu den höchsten Stoffen der bildenden Kunst gezählt wurde, aufgenommen und in eine sehr abstrahierte Form gegossen. In ihr deutet sich fast unbewußt schon an, was in späteren Arbeiten Hauptthema wird: Die Frage nach dem Bestand des Gegebenen und Überlieferten. Diese Arbeiten sind geprägt von einer freien Formgebung, von einer Dominanz formaler Mittel, die sich zuweilen sogar soweit selbständig machen können, daß die Komposition scheinbar an den Rändern brüchig, im Innern löchrig wird. Bestand hat das Gegebene nicht für immer.

Anfang der sechziger Jahre nehmen die Einzelfigur-Darstellungen wieder zu. Sie werden zum Träger einer noch stärker ausgeprägten Oberfläche mit tiefen Gräben und Brüchen, mit Graten und Wülsten, wobei jede einzelne Zelle letztlich von der Hand zeugt, die diese Fläche auf den Volumen geschaffen hat. Eigentümlich ist dabei, daß einzelne Gestalten zwar Volumen wieder zeigen, dieses aber gegenüber sehgewohnten Körpern eher unproportional erscheint — ausgenommen wenige Arbeiten des Themas „Liegende". Indirekt macht die Künstlerin darauf aufmerksam, daß die Volumen hohl sein müssen; sie spannen den Körper nicht mehr, sondern erschlaffen unter dem Druck der äußeren aggressiven Oberflächenformulierungen.

Spätere Arbeiten sind in solchen Kompositionen gleich mehrfach vorgeprägt: Auch bei einigen größeren Arbeiten der Gips-Eisen-Gruppe wird das Körpervolumen als sich auflösend, als entweichend, weich, ohne nach außen drängende Spannung dargestellt („Liegende", „Infantin"). Und bei den Kleidern, die in Bronzen vor der Gips-Eisenreihe im Grundmotiv vorweggenommen scheinen, ist der Körper schließlich gar nicht mehr vorhanden, ist das Volumen, obwohl es das Kleid prägt, verschwunden.

Diese Hinweise machen deutlich, daß das Werk von Anna Maria Strackerjan, obwohl in verschiedene Abschnitte zu gliedern, in einigen wesentlichen Erscheinungen, die über die Formgebung hinaus substantielle humane Probleme ansprechen, sich treu geblieben ist.

Mit der „Jacke", 1965, ist die erste lange Phase der Bronzeplastiken abgeschlossen, obwohl in den letzten Beispielen dieser Phase zukünftige Arbeitsreihen — „Schachspiel", „Daphne", „Kleider" — schon angedeutet werden. Doch die Künstlerin wendet sich neuen Materialien zu, die in ihrer Oberflächeneigentümlichkeit der Fingerspitzen-Arbeit Anna Maria Strackerjans mehr entgegenkommen und die in sich den Keim des Verfalls deutlicher sichtbar machen: Gips, Mischtechnik mit Eisengerüsten. Der wesentliche Grund für die Wahl des Materials war die Chance, Ideen in größeren Formaten zu realisieren und damit Themen und künstlerische Spannungen erheblich auszuweiten, wobei die Gips-Eisen-Kombinationen aber keinen bloßen Zwischenzustand darstellen sollten. Ihnen war bei aller Brüchigkeit und minimalen Veränderung durch die Veränderbarkeit der Oberfläche doch Haltbarkeit verordnet worden. Anna Maria Strackerjan hat sich diese neuen Materialien schwer erkämpfen müssen. Sie beginnt mit relativ enthusiasmierten Abstraktionen, denen sie aber gleich klassische oder mythologische Titel verleiht, nicht zuletzt, um die Offenheit zu bewahren, die die erarbeiteten Formen andeuten: „Torso", „Ikarus", „Phoenix", „Orpheus und Eurydike".

Das Gemeinsame ist einmal mehr das Unvollkommene, das Fragliche und Fragwürdige von Form und Inhalt. Langsam tastet sich die Künstlerin dann an die realere menschliche Figur heran. Sie erreicht sie in einigen sehr eigentümlichen Exemplaren: „Römischer Kaiser", „Infantin", „Galionsfigur", „Liegende", um nur einige Beispiele, aber die wichtigsten, zu nennen. In diesen Plastiken tritt der leichte Zug des Pathos, der freilich ironisiert durch Brüchigkeit in den aufwärts gerichteten Linien der ersten Gips- und Eisen-Beispielen zu spüren ist, ganz zurück. Das Dynamische ist der meditativen Ruhe gewichen, die den Prozeß des Verfalls, des Todes besser zum Ausdruck bringen kann. Die hochtrabenden Bezeichnungen bereichern die Skala formaler Spannungen um das inhaltliche Motiv des Paradoxen. Das Vanitas-Motiv ist dabei nicht so sehr auf den Einzelmenschen bezogen, als vielmehr auf den ganzen Bereich der abendländischen Kultur, repräsentiert in Einzelbeispielen mit Allgemeingültigkeit.

Mit ihren zerbrechlichen, hochgradig sensiblen Mischtechnik-Arbeiten hat Anna Maria Strackerjan für sich die Möglichkeiten der Großplastik erobert; und es liegt nicht in ihrem Vermögen, sondern am Ausgeschöpftsein dieses Bereiches, daß sie in den letzten Jahren nicht hier, sondern im nie stillgelegten Aufgabenfeld der Kleinplastik weitergearbeitet hat.

Abgesehen von ein paar thematischen Wiederaufnahmen, die einfach durch den Prozeß der sich wandelnden Auffassung eines Themas interessant werden, ist die Motivik des Schachspiels zunächst in den Blickpunkt gerückt worden. Die Künstlerin stellt sich damit in eine große Tradition, aber sie macht keine Zugeständnisse an die Schachfreunde, denen das Spiel noch eine „heile Welt" bedeutet. Vielmehr tragen König und Königin, Läufer, Pferd und Bauer die gleichen Zeichen des Untergangs und des Todgeweihten wie die großen Gips-Eisen-Gestalten. Und noch etwas ist in den Schachfiguren angekündigt: Die Form des Kleides, das einen Körper umhüllt. Anna Maria Strackerjan beschränkt sich hier auf einige Grate und Wülste zur Andeutung; die Köpfe, die daraus hervorwachsen, lassen den Körper noch vermuten. In der folgenden Serie werden sie dann ausgespart.

Zuvor aber hat ein Auftrag die Künstlerin zur Beschäftigung mit dem ewig neuen Thema der Verwandlung — „Daphne" — angeregt. Das Arbeitsergebnis läßt auch einen Blick auf die Arbeitsweise der Künstlerin werfen: Sie gibt sich mit ersten Entwürfen nicht zufrieden und kann die Qualität steigern, die sich vor allem in der Darstellung der Ambivalenz Mensch-Baum Leben-Tod ausdrückt. Auch das Zerbrechliche, Zarte, das die Sensibilität der Künstlerin demonstrierende Spiel mit dem Material vor allem im Bereich der Baumkrone findet in dieser Arbeit seinen formalen wie inhaltlichen Höhepunkt.

Die folgenden Reihe der „Kleider", die gegenwärtig letzte Werkgruppe, zieht ihre Wirkung vornehmlich aus dem Gegensatz von gespannten Flächen, betonten, formgebenden Linien und den an exponierten Stellen angesetzten Brüchen und durch den Fingerdruck entstandenen Wulsten. Zweifellos besitzen diese „Kleider", die in Beinamen Sage und Geschichte assoziieren, auch festlichen Glanz, intensiviert durch die Goldfarbe der Bronze. Sie besitzen im gleichen Maße aber auch Ironie, denn sie sind nur der „schöne Schein" einer Zeit, deren Glanz und Glorie, deren Humanität und Bildung verlorengegangen ist. Die Kleider sind hohl, der Mensch ist „ausgespart" (so der eindrucksvolle Titel einer großen Ausstellung in Darmstadt). Die Wirklichkeit ist nur ein Schleier, hinter dem die Wahrheit zu suchen ist. Der Augenschein trügt; die Plastiken deuten das im Werk Anna Maria Strackerjans immer wieder an. Darum hat sie niemals den realistischen Weg gewählt und ihre Aussagen und Botschaften an das äußere Erscheinungsbild gebunden, sondern in ein Netz von Form und Inhalt verwoben, das von der banalen Wirklichkeit Abstand nehmen läßt. Der Stuttgarter Kunsthistoriker Herwarth Roettgen hat das Problem glänzend formuliert: „Die Plastiken Anna Maria Strackerjans sind Gebilde von starkem Imaginations- und Kontemplationswert, Symbole der Unvergänglichkeit des Vergänglichen, des Lebens von Geschichte, sinnvoll in einer Zeit, in der man aus (Lebens-)Erhaltungstrieb nach dem zu Erhaltenden Ausschau hält und die vergangenen Spuren sucht ..."

Wenig ist in diesem Text bisher über Porträts, öffentliche Arbeiten und Zeichnungen gesagt worden. Die letzten sind keine ausgesprochenen Bildhauerskizzen, sondern auf Linie und Schraffur basierende Formfindungen mit eigener fommaler Problematik. Inhaltlich stehen sie den Plastiken nahe.

Die Reihe der in der Öffentlichkeit aufgestellten Arbeiten reicht von der Tiergruppe im Schloßgarten bis zu Brunnenfassungen im Herbartgang, um nur die nächsten und bekanntesten zu nennen. Auch bei diesen Arbeiten — am deutlichsten eben bei der „Daphne" im Staatstheater — hat sich die Künstlerin um die stilistische Eigentümlichkeit bemüht und sie gegen die Auftraggeber oft auch durchgesetzt. Wie bei den Porträts, die ihre Fähigkeit, auch nach Modell exakt zu arbeiten, demonstrieren können, geht die Bildhauerin keine Kompromisse ein, fügt sich aber den Bildungen, die lebensnotwendige Aufträge auferlegen. Besonderen Wert legt sie darauf, den Bedürfnissen des öffentlichen Publikums entsprechend ein Identifikationsobjekt zu schaffen, das zwischen Publikum und Anlaß (historische oder literarische Gedenkstätte) vermitteln kann.

Anna Maria Strackerjans Kunst liegt im Schnittpunkt von Aktualität und Tradition nicht nur bildhauerisch-künstlerischer, sondern auch literarischer Art. Sie hat die Kraft, hinter der Wirklichkeit wahre Humanität und Menschlichkeit sichtbar zu machen.

Jürgen Weichardt