Die Zeichnung

Über Umfang und Bedeutung der Zeichnung im Oeuvre Anna Maria Strackerjans ist bis heute wenig bekannt gewesen. Gelegentlich sind einzelne Blätter aufgetaucht - kleine Geschenke -, aber die ganze Produktion wird nun zum ersten Male vom Oldenburger Kunstverein ausgestellt: Zur Erinnerung an Anna Maria Strackerjan wird ein unbeachteter Aspekt ihres Schaffens sichtbar gemacht. Dabei erhält der Betrachter auch Einblick in künstlerische Zusammenhänge ihrer Arbeit. Knapp über hundert Blätter sind überliefert worden. Für einen Zeitraum von etwa zwanzig Jahren keine große Zahl, aber doch eine ausreichende Menge, um Entwicklungen feststellen zu können. Der Erhaltungszustand der Blätter ist nicht optimal. Für die Künstlerin waren sie gewöhnlich Notizen, Skizzen, Entwürfe, Bildhauer-Zeichnungen, die letzlich nicht für die Öffentlichkeit bestimmt waren. Aber es gibt dafür natürlich kein Verbot. Grundsätzlich sind zwei Gruppen zu unterscheiden, die zeitlich einander nachgeordnet sind: Pinsel- und Federzeichnungen. Die erste Gruppe ist in den vier Jahren von 1959 bis 1962 geschaffen worden - hauptsächlich aber nur 1959 und 1962. Die zweite Gruppe setzt um 1966 ein und endet 1979, wobei sich auch hier Schwerpunkte gebildet haben: 1966, 1969, 1974, 1975, 1978. Das bedeutet, daß die Künstlerin nicht kontinuierlich im Medium Zeichnung gearbeitet hat, sondern sporadisch, ganz nach Intuition und Verlangen. Die Betrachtung des Zeitfaktors enthüllt noch eine andere Eigenart: Es gab Tage und einzelne Wochen, an denen die Arbeitswut der Zeichnerin besonders auffällig gewesen ist: So der 17. März 1959, an dem sie eine ganze Reihe von informell wirkenden Pinselzeichnungen geschaffen hat; so der März 1962, in dem eine große Folge von Faschingsbildern entstand - und ähnliche prozise Terminierungen lassen sich auch zu anderen Zeiten feststellen. Und noch eine Besonderheit: Gelegentlich hat die Zeichnerin Anna Maria Strackerjan das Tagesdatum auf dem Blatt notiert, so daß diese präzise Rekonstruktion möglich ist. Sonst aber finden wir alle Möglichkeiten einer Kenntlichmachung der Autorenschaft: Das Motiv ohne Datierung und Signatur; die Signatur ohne Datierung; die Buchstaben AMST als Abkürzung; zwei verschiedene Schriftzüge als Signatur. Die Unsystematik entspricht nicht nur der Spontaneität der Künstlerin, sondern auch ihrer Schätzung dieses Mediums Zeichnung als ein für ihr Oeuvre sekundärer Bestandteil, der aber, das beweist diese Ausstellung, seine spezifische Schönheit hat und das Fluidum, das von der Künstlerpersönlichkeit Anna Maria Strackerjans ausgegangen ist, verstärkt.

Die Pinselzeichnungen

Diese Arbeiten sind praktisch in zwei großen Schüben entstanden: Eine Folge, die lediglich Nummern als Arbeitstitel trägt, 1959, eine zweite Folge zum Thema „Fasching", zu der auch Blätter wie „Tänzer", „Klavierspieler", „Gruppe" und selbst „Wäscherinnen" zu rechnen sind, weil sie eine hohe stilistische Verwandtschaft zeigen. Alle diese Kompositionen leben von der ursprünglich informellen Darstellungsweise, die sich aber in der zweiten Folge zu gegenständlichen Motiven zusammenschließt. Die Pinselstriche werden in kürzester Zeit aufs Papier geworfen, wobei die Phase der Umsetzung vom Gedanken zur Hand möglichst klein gehalten wird. Aus diesem Grunde spiegeln die Arbeiten etwas von der rhythmisch gestimmten emotionalen Grundstruktur Anna Maria Strackerjans - eine Konstante, die uns in den anderen Zeichnungen wiederbegegnen wird. Dieses Rhythmische in den Pinselzeichnungen paart sich mit dem sicheren Gefühl für Lockerheit und Dichte, für Spannungen zwischen Schwarz und Weiß, für Abwechslung zwischen einzelnem Pinselzug und zusammenwachsender Fläche.

Nur scheinbar haben diese Arbeiten einen großen Abstand zur Plastik, die in diesen Jahren entstanden ist: In der lockeren Pinselführung deuten sich Parallelen an zu den Gruppenthemen, aber auch zu der aus dem Fingerdruck erwachsenden Oberflächenformung, die für die frühen Figurenplastiken Anna Maria Strackerjans so charakteristisch ist. Auch sie sind einerseits thematisch gebunden, andererseits so unmittelbar wie möglich aus der gedanklich-emotionalen Sphäre ins Material übertragen worden. Doch sind diese Pinselzeichnungen natürlich keine Bildhauer-Vorarbeiten. Sie sind in einer Lustphase entstanden aus einer Stimmungslage heraus, nicht aber, um das Material zu erproben.

Ist der Zeitpunkt 17.3.1959 gegenwärtig unerklärbar, so doch nicht das „Faschings"-Motiv von 1962. In jenem Jahr war wohl der Höhepunkt der Oldenburger Künstler-Bälle gewesen, 1962 fand er in „Dietrichs guten Stuben" in Nadorst statt, ein rauschendes farbenfrohes Fest, das aber durch seine begrenzte Beleuchtung doch stets im Halbdunkel gehalten war. Daher die Umsetzungen in Schwarz, die Behandlung eines Themas in Schwarz, das eigentlich nach Farbe verlangt. Anna Maria Strackerjan macht also Front gegen Konventionen der Darstellung, gegen Klischees, ohne jedoch die Basis eigener gesicherter Ausdrucksformen zu verlassen.

Die Federzeichnungen

Schon von der zumeist linear gefaßten Technik her sind die Federzeichnungen in einem stärkeren Maße Bildhauer-Zeichnungen als die mit dem Pinsel geschaffenen Werke. Dennoch lassen sich mehrere Gruppen unterscheiden: Bildhauer-Entwürfe, Variationen eines schon gefaßten, vielleicht auch plastisch schon formulierten Themas; Ideenskizzen, die im Dreidimensionalen nicht realisiert worden sind, und freie, von den Plastiken distanzierte Zeichnungen, die mehr sind als Fingerübungen.

Zur letzten Gruppe zählen die scheinbar noch dem Informel nahestehenden Arbeiten, in denen die Künstlerin mit einem ganz kurzen Federstrich Dichte und Lockerheit als ein formales Motiv erprobt hat. Bei längerer Betrachtung schließen sich diese Kompositionen dann aber als Bilder von Torsi auf, die weniger der nicht mehr aktuellen Stilrichtung angehören, sondern stärker eine Umsetzung des brüchig wirkenden plastischen Materials der „Vögel"- und „Figuren"-Arbeiten ins Zweidimensionale sein wollen. Die rauhe, facettenreiche Oberfläche der Bildhauer-Stücke wird in der Zeichnung zu einer Häufung von feinen kurzen Strichen, die sich wie eine Haut über ein fast verborgenes Volumen legen. Auch hier hat Anna Maria Strackerjan in Phasen gearbeitet, so daß sich eine Zeichnung aus der anderen erklärt.

Zu dieser Gruppe gehören auch die Variationen der Themen „Liegende" und „Infantin", so genannt nach den Plastiken, die dieselbe fragil wirkende Oberfläche haben. Zwar ist die Zahl der Variationen kleiner, doch der Abstraktionsgrad dafür weiter gezogen. Die Künstlerin erreicht dabei eine innere Distanz zur Motivik, die alt und traditionsreich ist, die reflektiert, wie sehr sie um die plastische Ausformung gerungen hat und wie anders gegenüber den konventionellen Kompositionserscheinungen ihre Arbeiten geworden sind.

Von den Zeichnungen her wird der formale Aspekt dieser eigentümlichen Plastiken mit ihrer verborgenen und gesackten Körperlichkeit sinnvoll beleuchtet: Letztlich geht es auch bei diesen Arbeiten um die Belebung und Lebhaftigkeit der Oberflächen und um die Verschleierung der vorhandenen Volumen. Das aber sind nicht nur formale Aussagen, sondern zugleich inhaltliche, die auf die den Arbeiten innewohnenden ironischen Züge zeigen. Die scheinbare Verschleierung des Gegebenen in diesen beiden Arbeiten, ihre assoziativ historische Dimension, wird in der meditativen Betrachtung oder in der Analyse transparent, und dabei wird der Kontrast zwischen Anspruch der Themenfigur und ihrer Darstellung offenbar und dadurch die erwachende Ironie.

Freilich hat Anna Maria Strackerjan dieses Spiel in den Zeichnungen nicht so weit getrieben, da sie zumeist auf eine Titelgebung verzichtet hat. Die in den Klammern angegebenen möglichen Themen sollen eine Relation zu entsprechenden Plastiken ermöglichen, sollen aber die Selbständigkeit der Zeichnungen nicht einschränken. Nur eine Zeichnung, die dann aber unsigniert geblieben ist und undatiert, trägt einen romantischen Titel „L'apresmidi d'un faune", wohl eine idyllisch-mythische Arbeit nach Debussy, wobei die Künstlerin die allzu große Schönheit durch einen breiten Tuschrand wieder zurückgenommen hat.

Aus der Reihe der an plastischen Ergebnissen angelehnten Zeichnungen fällt das Blatt vom 13.7.1974 heraus, das offenbar drei Bäume in unterschiedlichem Entfaltungszustand zeigt. Doch ist hier wohl eine frühe Skizze zu dem später bearbeiteten „Daphne"-Motiv zu sehen, das in großer Realisation im Staatstheater steht und in kleinerer Version von einigen Freunden erworben werden konnte. Eigentümlich zu beobachten, wie sich die Künstlerin an die Wipfelform herangetastet hat, so als wiederhole sie den Mythos von Daphne von der Baumseite her. Vielleicht ist der Künstlerin bei dieser Probe auch der Gedanke zum Motiv der Karyatide schon gekommen, denn grundsätzlich mußte dafür die Eingangsform nicht verändert werden.

Aus der Reihe der Bildhauer-Zeichnungen sollen zwei Gruppen besondere Erwähnung finden: Die Motivreihe „Schuh" und die Reihe „Kleider". Auch hier wird das Herantasten an die zuletzt plastisch realisierte Form erkennbar. Dabei strebte Anna Maria Strackerjan beim Schuh-Motiv fast immer zur Vollständigkeit, indem sie die Schuhform mit einer Horizontline verband. Tatsächlich ist dieser Schuh kein modisches Accessoire, sondern eine plastische Form, bei deren Ausführung schon in der Zeichnung die Künstlerin auf das Material geachtet hat. Die Binnenstriche sind frei, deuten Volumen oder Grate an, aber sie zeigen keine inhaltlichen Funktionen.

Von dem Schuh-Motiv zu den Kleidern ist es nur ein Schritt, aber ein wichtiger, weil bei diesen die Kontur ein noch größeres Gewicht erhalten hat. Hier besonders tritt der Rhythmus in den Vordergrund; er bestimmt vor allem in den Blättern mit mehreren Kleidern die Bewegung, die Wiederkehr des Ähnlichen. In der klaren und schlichten Linienführung gewinnen diese Arbeiten eine klassische Größe. Ihre Entstehungszeit fällt in die letzten zwei Jahre, in denen Anna Maria Strackerjan gezeichnet hat. Parallel zu ihnen hat die Künstlerin noch ein anderes Motiv bearbeitet, das nicht mehr in der Plastik realisiert werden konnte, das aber in einer lockeren Beziehung zu den „Kleidern" stand: Das Motiv „Hut". Freilich ist schwer nachvollzielbar, worauf diese Motivreihe zurückzuführen ist, zumal die Formgebung sich von den klaren einfachen Konturen der Kleider doch wieder unterscheidet. Hier werden nicht mehr eigentlich abstrakte Formen und Volumen erfaßt, sondern Gegenstände. Diese freilich in einer eher doppeldeutigen Form: Wie um die Jahrhunderwende wird die Basis des Hutes zu einer Basis verschiedener Gegenstände, häufig aus dem Sand- und Meeresbereich: Muscheln, Schneckengehäuse können gehäuft werden, so daß die Vorstellung „Hut" eigentlich gar nicht in den Vordergrund tritt. Erst der betonte Hutrand und dann die Andeutung eines Schleiers oder eines Gesichtes hinter einem Schleier komplettiert das Motiv. Es führt zu einer Umdeutung. Man wird hier wohl kaum von einer surrealistischen Ausformung des Motivs sprechen können, doch war der Künstlerin an einer realistischen auch nicht gelegen.

Die Zeichnungen von Anna Maria Strackerjan besitzen durchweg ein hohes Niveau - auch und gerade dort, wo sie ein Thema vielfach angegangen ist. Zugleich ergänzen die Zeichnungen direkt - indem sie auf einzelne plastische Werke verweisen - und indirekt - indem sie sich davon in großer Distanz befinden - die bildhauerischen Arbeiten der Künstlerin. Sie machen manches verständlich und einsehbar. Sie legen künstlerische Notwendigkeiten offen. Vor allem aber beweisen auch sie, daß Anna Maria Strackerjan in einer medienüberfluteten Zeit stets um ihren eigenen Weg und um ihre eigene persönliche Ausdeutung der auf sie zukommenden Welt bemüht war. Mehr: Sie hatte in der Verfolgung einer selbständigen, weitgehend unabhängigen Kunstsprache klare Erfolge.

Jürgen Weichardt