Symbole der Unvergänglichkeit des Vergänglichen

Das erste Werk, das ich von Anna Maria Strackerjan sah, war die "Infantin". In einem kleinen engen Zimmer war sie mit angezogenen und verschränkten Beinen auf dem harten Gestänge eines Eisenstuhls zusammengerutscht, auseinandergequollen, gehalten scheinbar von dem Gestänge, am Kopf durch den Gips hindurch, aus dem sie geformt ist, grimassenhaft ein Eisengeflecht sehen lassend.Ein verwittertes kleines Ungeheuer, das in einem Gestell über seine Zeit hinaus bewahrt wird, ein übriggebliebener Gnom, nicht ohne Assoziation an Francis Bacons körperliche Deformationen.

Ebenso der "Römische Kaiser", verwittert wie die Flussgötter der Villa d'Este, überknustet, aber dennoch ein wiederum gnomenhaftes, eigensinniges Scheinleben führend, eine Büste mit zerfressen herabhängenden Togaresten, deren Grundgewebe aus Eisengeflecht den mottenzerfressenen Charakter noch verstärkt.Er scheint nicht etwa auf den drei Eisenstangen als Büste aufgestellt, sondern diese Stangen gehören zu ihm. Er kommt mit seinem nur halben Korper auf ihnen wie auf Stelzen daher. Er führt ein eigensinniges Leben, ein Scheinleben; ein ungebetener Besucher, ein Invalide der Geschichte auf Krücken, in einer Zeit, in der das Alte hemmt, das Alter stört, die selbst das Nichtaltern auf ihre zivilisatorischen und biologischen Fahnen geschrieben und zugleich Angst hat, vielleicht nicht zu überleben.

Seit etwa 1963 steht in den Werken Anna Maria Strackerjans die Geschichte als Gehäuse im Mittelpunkt, die Erfahrung des Ubriggebliebenen, das hintergründig und mit mahnender Magie da ist: von der Antike - dem zerfledderten Ikarus, dem zu zerfressenem Weidenwerk gewordenen Paar "Orpheus und Eurydike", dem "Römischen Kaiser" - über die "Kleider aus einem Museum" - "Ophelias Brautkleid", "Ballkleid um l900" - bis hin zu der aufgespiessten und dennoch wie lebendigen "Vogelscheuche" oder dem in der Gestalt an Heiligers "Flamme" erinnernden "Schuttplatz-Idyll" sind die Geschichte und Zivilisation in der Metamorphose magisch erlebt. Es ist eine Erfahrung und Inventarisierung des Unheimlichen und, was die Antike dabei angeht, eine nordsüdliche Verbindung, entstanden aus der norddeutschen Affinität zum Geheimnievollen und der Begegnung mit dem, was in südlichen Zonen den Menschen als seine geschichtliche Biographie mehr als irgendwo anders ständig umgibt und von ihm oft genug verschlissen wird. Hier liegt auch die Modernität dieser Plastiken. Das Spurensichern, ein vielleicht zu häufig gehörtes, aber dennoch schlagendes Wort in unserer Zeit, tritt hier nicht in der Form einer wissenschaftlichen Fiktion hervor, sondern das Übriggebliebene scheint sich ungebeten in Erinnerung zu rufen; scheinlebendig versichert es sich aus Widerstand gegen die Verwitterung unserer Erinnerung dennoch unseres Bewusstseins.

Einzelfigur und Gruppe sind die Hauptthemen. In den Kleinplastiken aus Bronze finden sich wehende Gestalten in geschlossenen und offenen gespaltenen Formen mit flächigen Bezügen und expressiver Silhouettenwirkung. Die Neigung zu konkaven Formen in den sich ein- und auswölbenden Gebilden bewirkt mitunter eine schalenhafte und schwebende Leichtigkeit von starkem, inhaltsfreiem Eigenwert. Die schemenhaft schwebende Gestalt solcher Gruppen wie "Schreitendes Paar" (1954) oder "Wer trägt?" (1961), die an Chadwick und Armitage, aber auch an Cimiotti erinnern, zeigt ein bestimmtes FormwoIlen, das ich mit der Abprägung körperhafter Kräfte in der Fläche des Materials bezeichnen möchte. Die Körper scheinen ihre Spuren in schwebenden Flächen hinterlassen zu haben. Wie sie zusammenhängen, haben sie einen hohen humanen und sozialen Symbolwert. Es handelt sich um Gemeinschaft in Paar und Gruppe.

Wie diese Körper schemenhaft sind, Abdrücke von Körpern, nicht diese selbst, deutet sich schon überzeugend die Entstehung der künstlerischen Idee des Abdruckes von Körpern in Gewändern als deren Schalen an. So kommt es zu jener Reihe von Kleidern, "Jacke" (1964), "Jacke einer Königin" (1968), "Kleider aus einem Museum" (ab 1976), aber auch zu "Helena", "Iris" und "Josephine", die ebenso plastische Körper wie auch Schale leeren Raumes sind. Die Vitalität der Körper, ihre Wärme ist aus ihnen entwichen; die Körper sind vergangen, aber sie haben sich in der Schale ausgeprägt, die stehengeblieben ist und den Raum dieser ehemaligen Körper weiter umspannt: Schale ohne den Kern, der ihr die Form gab, hohl in einem dreifachen Sinne: einmal als Bronzeplastik Hohlform, zum anderen konsequenterweise, da ein menschlicher Körper nicht hohl sein kann, das hohle Kleid als die den Menschen umgebende Form und zum dritten hohl geworden, weil nicht mehr ausgefüllt. Aber diese Form führt ein Scheinleben weiter, ein Leben von aktiver Gestik, wie die Panzer längst vergangener Käfer.

Es ist im Grunde die gleiche Thematik des aktiven Reliktes wie in den Grossplastiken, aber in anderer Formensprache, eben der Bronzehohlform angemessener, während der Gips, wenngleich über einem hohlen Eisennetz modelliert, kompakter wirkt, obwohl er viel fragiler ist. Aber auch im Gips hat Anna Maria Strackerjan in der "Jacke einer Königin" die Thematik des KIeides als Schalenform eines plastischen Körpers gestaltet. Letztlich sind auch der "Römische Kaiser" und "Orpheus und Eurydike" ja solche Schalengebilde, die ausgehöhlt stehengeblieben sind. Aber ihr Charakter ist weniger plastisch, obwohl kompakt dennoch fragil, zerfressene Materie, wie in manchen Werken Reuben Nakians.

Die "Odaliske" von 1971 und die "Galionsfigur" von 1972 haben dagegen einen erdhaft schweren Charakter. Aber auch sie suggerieren Zerfall, Vergänglichkeit, gegen die sich die im Zerfall aufgehobene Form wehrt. Die Plastiken Anna Maria Strackerjans sind Gebilde von starkem Imaginations- und Kontemplationswert, Symbole der Unvergänglichkeit des Vergänglichen, des Lebens von Geschichte, sinnvoll in einer Zeit, in der man aus (Lebens-) Erhaltungstrieb nach dem zu Erhaltenden Ausschau hält und die vergangenen Spuren sucht. Ihre Plastiken zwingen zu solcher Zwiesprache, in der Gestalt und Geschichte zwischen Bewahren und Veränderung erfahren werden.

Herwarth Röttgen